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Schweiz

Medienmitteilung: Tonnagesteuer ohne Gegenleistung verschärft die Deregulierung auf den Weltmeeren

10 Mai 2022

Medienmitteilung

Die Gewerkschaft der Seeleute, Nautilus International in Basel, lehnt die Bundesratsvorlage "Bundesgesetz über die Tonnagesteuer auf Seeschiffen" ab.

Am 5.4.2022 schickte der Bundesrat die definitive Vorlage zur Tonnagesteuer und hofft nun, dass der Nationalrat sie mehrheitlich annimmt.

Mit der Einführung der im internationalen Massstab üblichen Besteuerungsvariante, die nicht den Gewinn, sondern pauschal das schiffseigene Frachtvolumen besteuert, wolle man endlich für "gleich lange Spiesse im internationalen Wettbewerb" sorgen. Diese sachlich richtige Argument verkennt allerdings, dass an die Gewährung der Tonnagesteuer etwa in der EU strenge Auflagen gebunden sind, die eine Regulierung im Sinne von Arbeitnehmerschutz, ökologischen Belangen und Fragen der Sicherheit ermöglichen.

Das wichtigste Instrument ist dabei das sogenannte "Flaggenerforderniss", das aus völlig unverständlichen Gründen nun aus der Gesetzesvorlage gestrichen wurde.  Das in der EU übliche Flaggenerforderniss würde im Schweizer Falle bedeuten, dass ein Unternehmen, dass in den Genuss der Tonnagebesteuerung kommen will, nicht nur seinen Sitz in der Schweiz haben muss, sondern einen Grossteil seiner Flotte der Flagge der Schweiz oder einem EU-Staat unterstellen muss. Mit dieser Praxis will die EU eine weitere Ausflaggung von Hochseeschiffen in sogenannte Billig- oder Offshoreregister (sogenannte Flags of Convenience) wie den Bahamas, Liberia oder den Marshall-Islands stoppen oder gar umkehren.

Offshore Flaggen dienen dem Dumpingwettbewerb und garantieren keine Umsetzung von sozialen und ökologischen Standards

Nautilus International und der weltweite Dachverband der nautischen Gewerkschaften ITF (International Transport Workers Federation) führen unter dem Motto "No place to hide" seit Jahren eine Kampagne gegen diese Ausflaggungspraxis, weil damit die Hochseeschifffahrt dem regulatorischen Zugriff durch seriöse Flaggenstaaten, dem funktionierenden und zugänglichem Recht und auch dem zivilgesellschaftlichen Diskurs entzogen wird.

Der Bundesrat argumentiert hingegen, ökologische und soziale Belange seien insofern ausreichend berücksichtigt, als die Vorlage vorschreibt, sich einem Flaggenstaat zu unterstellen, welches die diversen international existierenden maritimen Regulative ratifiziert hat. In der Tat trifft dies für die meisten Offshoreflaggen zu. Allerdings besteht zwischen der formalen Anerkennung internationaler Regelwerke wie etwa dem Seearbeitsübereinkommen (Maritime Labour Convention von 2006) und ihrer Umsetzung eine grosse Diskrepanz. Unsere langjährige Erfahrung, gerade aber auch die jüngeren Vorfälle von Kidnapping von Seeleuten durch Piraten oder der sündenbockhaften Inhaftierung von Seeleuten mit zweifelhaften juristischen Vorwürfen in Nigeria oder auch das derzeitige Schicksal von ukrainischen Seeleuten, zeigen wie Seeleute unter Schweizer Flagge im Krisenfall, aber auch bei üblichen arbeitnehmerrechtlichen Streitfällen, nicht nur durch uns als Gewerkschaft, sondern eben durch die Schweizer Behörden wie dem vom EDA betriebenen Seeschifffahrtsamt  und im Zweifelsfalle auch der Schweizer Diplomatie, einen herausragenden Schutz geniessen, der unter den sogenannten Billigflaggen in der Regel nicht gegeben ist.[1] Dort existieren in der Regel keine starken Gewerkschaften, keine kritische Zivilgesellschaft und es ist fraglich, ob die zuständigen Flag-State-Behörden ihre kritische Kontrollinstanz wahrnehmen oder letztlich nur Instrumente des Dumpingwettbewerbs um weitere Ansiedlungen bzw. Einflaggungen sind.

Die Basler Rechtsexpertinnen Kathrin Betz und Mark Pieth kritisierten schon lange, dass von Schweizer Boden aus Hochseeschifffahrt betrieben werden könne, ohne dass die Schweizer Reedereien und Rohstoffhändler sich hierzulande verantworten müssen. Denn während die Flotte unter Schweizer Flagge gerade mal 17 Schiffe umfasst, sind gut 1000 Schiffe von Schweizer Eigentümern in aller Welt registriert. Allein MSC habe 500 Schiffe. Mit Blick auf etwa die skandalöse Abwrackungspraxis von ausrangierten Containerschiffen in Indien, argumentieren die beiden, könnte man Unternehmen wie MSC hierzulande viel einfacher zur Rechenschaft ziehen, wären deren Schiffe EU/EWR oder Schweizer Flagge registriert.[2]

Der Bundesrat begründet den Verzicht auf das Flaggenerfordernis in seiner Botschaft formal damit, dass "die Schweiz das Risiko einer völkerrechtlichen Unvereinbarkeit mit dem GATS nicht in Kauf nehmen möchte". [3] Gemäss dem GATS Abkommen über den Handel von Dienstleistungen von 1954 würde, so die Argumentation des Bundesrates, das Flaggenerforderniss als "Diskriminierung von Drittsaaten" gewertet. Es fragt sich, wieso dann andere europäische Staaten dieses "Risiko" eingegangen sind und warum nun die Schweiz die Praxis der EU unterbietet? Viel naheliegender ist es, anzunehmen, dass der Verzicht wesentlich auf den grossen Lobbyeinsatz zurückzuführen ist, den die mit der Hochseeschifffahrt verbundenen Schweizer Unternehmen aus dem Bereich Reedereimanagment, Rohstoffhandel und Finanzdienstleitungen in den Konsultationen gezeigt haben.

Die Schweiz braucht eine echte, nachhaltige maritime Strategie, keine Schnellschüsse

Der Verzicht auf das Flaggenerforderniss verwundert umso mehr, als dass der Bundesrat noch im Februar dieses Jahres ankündigte, eine "ganzheitliche umfassende maritime Strategie unter Einbezug der Wirtschaft, Wissenschaft und Sozialpartner" zu erarbeiten.[4] Die Vorlage zur Tonnagesteuer kommt nun diesem Prozess zuvor und droht Fakten zu schaffen, die jegliche Bemühungen um eine ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltige Hochseeschifffahrt Makulatur werden lassen würden.

Nautilus International Basel 9.5.2022

[1] https://www.nautilusint.org/ch/nachrichten-einblicke/kompass/kriminalisierung-gef%C3%A4ngnis-lohnverzug-die-crew-der-san-padre-pio-und-der-schutz-der-schweizer-flagge/

[2] https://www.swissinfo.ch/eng/switzerland-must-regulate-its-opaque-shipping-industry/47483160

[3] https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/71383.pdf

[4] https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/bundesrat.msg-id-87209.html


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